Der 21. August 1969 war ein Donnerstag. In Hessen waren noch Sommerferien, das Wetter war durchwachsen. Immer wieder regnete es. Vor den großen Ferien waren wir mit der Lahntalschule in La Charité-sur-Loire gewesen und hatten uns dann unsere Mittlere Reife bestätigen lassen. Ein neues Lebenskapitel sollte beginnen, Oberstufe, reformierte Oberstufe. Mittags standen wir in Biedenkopf auf dem Marktplatz. Seit Tagen war der Auftritt eines der prominentesten deutschen Politiker angekündigt und beworben worden: Willy Brandt, SPD-Vorsitzender, Vizekanzler der Großen Koalition und Außenminister sollte um 14 Uhr in der Kreisstadt sprechen. Ein Ereignis.
Vor der „Deutschen Bank“ war ein Rednerpult aufgebaut worden. Gegen 13 Uhr begannen die „Marburger Jäger“ auf dem Marktplatz ihr „Platzkonzert“. Wenig später starteten die ersten Omnibusse in Bischoffen, Hartenrod, Niederhörlen, Elmshausen oder Hirzenhain. Über fünf Linien wurden Interessierte aus dem ganzen Hinterland „kostenlos“ zu der vom SPD-Unterbezirk Biedenkopf organisierten Veranstaltung abgeholt. Eine „vieltausendköpfige Menge“ soll es nach Zählungen des „Hinterländer Anzeigers“ (HA) geworden sein; die „Oberhessische Presse“ sah 3000 Männer, Frauen und viele Kinder. Carl-Christian Kaiser freilich, der für die renommierte Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ aus Biedenkopf berichtete, kam nur auf „vielleicht dreihundert, vierhundert Bürger und Bürgerinnen“ … (Hinterländer Geschichtsblätter 1/ 2019, S. 3-5)